
Der ganz normale Wahnsinn
Während es uns nahezu selbstverständlich erscheint, dass fast jeder hier in Deutschland ein Häuschen mit Garten und genug Fläche für sich und seine Familie besitzt (Bild links) oder zumindest eine Wohnung, in der jedes Familienmitglied seinen eigenen Raum hat ( von "Extremfällen" einmal abgesehen). Die deutsche "Wohnlandschaft" besteht wohl in den meisten Gegenden aus Einfamilienhäusern, mehr oder weniger idyllisch gelegen, mehr oder weniger dicht aneinander gereiht. Als Schandfleck gelten meist schon die nicht allzu attraktiven und nur minder geräumigen Plattenbauten. Doch im Vergleich zu Tokio und dem Wohnwahnsinn, der laut einem Zeitungsartikel der Süddeutschen Zeitung dort herrscht, ist selbst das noch ein äußerst wohnlicher Raum.
Die SZ schildert in ihrem Artikel den enormen Platzmangel in der Hauptstadt Japans und den daraus resultierenden Bauwahnsinn. Diese Platzknappheit macht sich in allen sozialen Schichten bemerkbar: Während bei uns die Obdachlosen meist zumindest eine Parkbank oder einen Platz unter einer Brücke finden, stehen diese in Japan Schlange, um beispielsweise einen Schlafplatz vor den Schaufenstern der Stadt zu ergattern. Es wird von einem Mann berichtet, der täglich um "seine 2,5 mal 1,5 Meter lange, rund einen Meter hohe Sperrholzschachtel" kämpfen muss, um sie vor anderen Obdsachlosen zu verteidigen.
Doch nicht nur die Obdachlosen sind von dem Platzmangel betroffen, er bestimmt das Leben nahezu aller Menschen in Tokio.
Die SZ berichtet weiter von einer Fahrschule: in den Straßen ist zu wenig Platz, als dass die Fahrschüler hier ihre Fahrstunden absolvieren könnten. Statt dessen wurde die Fahrschule auf das Dach eines Supermarktes "plaziert". Hier wurden eigens Ampeln, eine Kreuzung und sogar eine Rampe um das Anfahren am Berg zu üben, installiert. In acht bis neun Metern über dem Boden fahren zeitweise bis zu 35 Fahrschul-Mazdas im Kreis, um den Schülern das Fahren beizubringen. Motorrad-Fahrstunde wurden allerdings abgeschafft, das Risiko vom Dach zu fallen war zu groß.
Ein weiteres Beispiel, das von der SZ genannt wird ist ein Shinto-Schrein, der direkt auf einem Schnellzugtunnel steht. Der Schrein steht dort schon seit ungefähr 800 Jahren, der Tunnel wurde Anfang der 80er-Jahre gebaut. Die Gläubigen, die dort "Shobu No Kami" anbeten scheint dies nicht weiter zu stören, der Priester, der ein paar Meter vom Schrein entfernt wohnt berichtet allerdings davon, dass im Haus und im Schrein "alles vibriert" sobald ein Zug durch den Tunnel fährt und in beiden Gebäuden auf Grund der Erschütterung immer wieder Glühbirnen zerplatzen.
Doch nicht nur Schreine, selbst Friedhöfe bleiben laut SZ nicht von der Platzknappheit verschont. Ein Friedhof wurde untertunnelt, damit Autos dort passieren können und als auf einem anderen Friedhof der Platz für weitere Gräber ausging, entwickelte man eine "Rotationsanlage", in der Urnen gelagert werden. Mit einer Chipkarte können die Friedhofsbesucher die Urne ihres Angehörigen "anfordern", sie rotiert und bewegt sich auf einen Altar, danach "verschwindet die Urne auf Knopfdruck wieder im Reich der Toten". Nach dem Prinzip dieser Rotationsmaschine werden, laut SZ, auch Autos in den Parkgaragen Tokios gestapelt.

Auch ist es in Tokio wohl nicht mehr allzu überraschend, dass Menschen in Wohnungen leben, die die Grundfläche eines Autobusses besitzen: direkt über einem Busbahnhof wurden Appartements gebaut, jedes einzelne hat genau 34 qm - "die Fläche, die ein Tokioter Bus zum Parken braucht" (siehe Bild rechts).
Trotz des beschränkten Raumes, den die Maße eines Busses bieten, fühlen sich die Bewohner nicht unwohl, als störend wird in dem Artikel lediglich der Zeitpunkt bezeichnet, zu dem morgens alle Busse ihren Motor anlassen, was natürlich eine hohe Geräusch- und Geruchsbelästigung darstellt. Diesen nehmen lanjährige Bewohner allerdings schon gar nicht mehr wahr.
Die Reihe der verrückten Beispiele lässt sich scheinbar endlos fortsetzen. Es ist die Rede von Kinderheimen unter einer Autobahn, von Fußballfeldern über den Becken einer Kläranlage und einem Kino in einem Brückenpfeiler.
Tokio ist ein Spielplatz für Architekten, nirgends können sie sich wohl sonst in diesem Maße austoben wie hier, nirgends sonst ist ihr Einfallsreichtum so gefragt und nirgends sonst resultieren so "verrückte" Bauten aus Platzmangel. Für uns, in unserer Einfamilienhaus und Schrebergarten-Kultur nicht vorstellbar.
Bei all diesem Bau- und Wohnwahnsinn fällt mir der Werbeslogan eines uns allen bekannten schwedischen Möbelfabrikanten ein: "Wohnst du noch oder lebst du schon?".
Quelle:
Süddeutsche Zeitung Nr. 140, Seite 3, 21. Juni 2006
Bilderquelle:
Bild 1 (Einfamilienhaus):
http://www.massivhaus-zentrum.de/haustypen/einfamilienhaus/hbi135/haus_hbi135.php
Bild 2 (Bushaus):
http://www.dnp.co.jp/museum/nmp/madeintokyo_e/mit.html#3